Die Aufregung war groß, als Ferrari den finnischen Routinier Kimi Räikkönen mit einem Youngster ersetzte. Natürlich: Charles Leclerc hatte im lange Zeit hoffnungslos unterlegenen Sauber gute Leistungen gezeigt. Dennoch hatte der Monegasse erst eine Saison hinter sich gebracht und war demnach ein noch recht unbeschriebenes Blatt. Nach gut einem halben Jahr bei der Scuderia lässt sich festhalten, dass die Verantwortlichen eine richtige Entscheidung getätigt haben. Und mehr als das, denn Leclerc läuft Sebastian Vettel langsam den Rang ab.
Vettel gibt nur bis Montreal den Ton an
Als klare Nummer eins von Ferrari ging der deutsche Vierfachweltmeister Sebastian Vettel in die Saison 2019. Nach einem enttäuschenden Jahr 2018, das von vielen individuellen Fehlern und Missgeschicken des Teams geprägt war, sollte endlich der große Angriff folgen. Überzeugende Winter-Testfahrten in Barcelona unterstrichen die traditionell großen Ambitionen des italienischen Rennstalls. Beim Saisonauftakt im australischen Melbourne stellten jedoch auch die letzten Optimisten fest, dass Mercedes abermals sehr weit entfernt war.
Selbst Max Verstappen im Red Bull reihte sich hinter den Silberpfeilen und noch vor den beiden Roten ein. Schon früh schrillten im Ferrari-Lager deshalb die Alarmglocken, die erst beim sechsten Rennen in Monaco endlich etwas verstummten. Sebastian Vettel gelang hier der zweite Platz, den er in Montreal wiederholen konnte. Doch als es vollständig nach Europa zurückging, hatte der Ex-Weltmeister auf einmal Probleme, die vor allem mit dem eigenen Teamkollegen begründbar waren.
Sowohl in Le Castellet, Spielberg als auch Silverstone landete Charles Leclerc vor dem Deutschen, alle dreimal zudem auf dem Podium. Auch wenn seine Quote auf die Fahrer-Weltmeisterschaft in den Sportwetten derzeit bei nur 81,00 liegt (Stand 9. September), hatte sich vor allem die Teamdynamik geändert. Selbst wenn die anderen Teams näher an Mercedes heranrückten, ist es vor allem der Kampf mit dem eigenen Teamkollegen, der in der Formel 1 am ehrlichsten bewertbar ist.
Abseits des chaotischen Rennens in Hockenheim, das für Leclerc in der Mauer endete, lief der Monegasse seinem ärgsten Widersacher in den letzten Monaten nach für nach den Rang ab. Das führte gar so weit, dass Vettel seinen Teamkollegen beim Großen Preis von Belgien passieren ließ. Es war der erste Sieg in Leclercs Karriere, dem aller Voraussicht nach noch viele folgen werden. Auch beim folgenden Qualifying gab es wieder Diskussionsstoff bei Ferrari, als Leclerc Vettel in der alles entscheidenden Runde keinen Windschatten gab.
Gedanken an Vettel – Ricciardo werden wach
Bei der Entwicklung der derzeitigen Situation innerhalb des Rennstalls werden sofort Gedanken an 2014 wach. Damals stieg Daniel Ricciardo teamintern zur Nummer eins auf, die zuvor jahrelang Vettel galt. Schließlich hatte der Deutsche gerade vier Weltmeistertitel mit Red Bull eingefahren. Ohnehin ist das Qualifying ein Stichwort, bei dem Ferrari aufhorchen sollte. 4:1 Pole Positions lautet die aktuelle Bilanz zugunsten des Monegassen. Leclerc scheint in den Alles-oder-nichts-Situationen die bessere Geschwindigkeit auf die Strecke bringen zu können.
Dabei bleibt der Youngster dennoch ein sehr sympathischer Zeitgenosse, der sich keinerlei zweifelhafter Tricks bedient, um seinen Teamkollegen zu schlagen. Wenn es bislang zu einem Sieg kam, dann vor allem, weil er auf der Strecke einfach schneller als der in Hessen geborene Pilot war. Ohne die eine oder andere von Ferrari ausgesprochene Teamorder in den ersten fünf Rennen wäre Leclerc aller Wahrscheinlichkeit nach bereits jetzt vor Vettel platziert.
Beide bezeichnen die Beziehung zueinander zudem als produktiv und sehr gut. Außerhalb des Autos helfen beide Fahrer dem Team so gut es geht mit Informationen weiter und behalten keine Tipps für sich. Somit darf sich vor allem Ferrari freuen, dass auf den schweigsamen Räikkönen nun mit Leclerc ein kommunikativer und hochambitionierter Pilot folgte, der das größte aller Ziele für einen Formel-1-Fahrer bislang noch nicht erreicht hat: den Gewinn der Weltmeisterschaft. Angesichts der Entwicklung der letzten Jahre ist es ganz und gar nicht unwahrscheinlich, dass es Charles Leclerc eher gelingt, Titel Nummer eins einzufahren, als dass Vettel erstmals mit Ferrari triumphieren sollte.
Dennoch handelt es sich ohne Zweifel um das wohl stärkste Fahrerduo, das Ferrari bei allem Jubel um den ersten Sieg von Leclerc noch deutlich effizienter einsetzen kann. Einen derart großen Abstand von Lewis Hamilton und Valtteri Bottas zur Konkurrenz gab es nicht immer. Es waren vor allem die üblichen strategischen Fehltritte von Ferrari und einige Fahrfehler, die abermals eine riesige Lücke aufrissen. Es bleibt die Hoffnung, dass es vielleicht 2020 endlich besser wird. Mit einem Weltmeister Charles Leclerc?
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